Wie bin ich hier gelandet? Warum sitze ich hier in diesem Raum, in dem nichts natürlicher ist als mein eigener Körper? Nicht mal die roten Geranien auf dem Balkon haben ihre ursprüngliche Farbe. Wenn ich aus dem Fenster schaue ist alles betoniert, die Gärten abgesteckt und ordentlich angelegt. Menschen fahren mit Elektrorollern umher und lassen sie an jeder beliebigen Straßenecke achtlos stehen oder fallen. Ob es wohl auf dieser Erde einen einzigen Stein gibt, der noch nicht von einem Menschen umgedreht wurde?
Als ich ein Kind war fuhren wir in den Ferien zu meiner Tante auf das Land. Ich mag den Geruch von Dung. Wenn es so riecht, habe ich den Eindruck die Natur fühlen zu können und ich muss daran denken wie wir unsere Hände in Kuhmäuler gesteckt haben um Schwimmhäute zwischen den Fingern zu bekommen. Ich erinnere mich an meine erste Fahrt ans Mittelmeer. Wir wohnten in einer kleinen Ferienwohnung mit einem Garten voller hoch gewachsener Pinienbäume. Es war heiß und an der Promenade wuchsen Palmen und Kakteen. Auf Mallorca war ich noch nie. Ich stelle mir eine hügelige Landschaft vor, Gärten mit hübschen kleinen Fincas und Palmen. In einem Reiseführer habe ich gelesen, dass nur eine einzige Palmenart heimisch auf Mallorca ist. Dem zum Trotz importieren immigrierte Inselbewohner weitere mediterrane Zierpflanzen für ihre Gärten. Viele dieser Grundbesitzer*innen verbringen nur eine begrenzte Zeit im Jahr in ihren schmucken Häusern. Zwischenzeitlich ist der Garten sich selbst oder einem angestellten Gärtner überlassen.
Mit Bedauern mussten wir feststellen, dass die Zucchinipflanzen im Gemüsebeet kaum Früchte trugen. In der Nachbarschaft sprach sich herum, dass viele Anwohner eine ähnliche Beobachtung in ihrem Garten gemacht hatten. Es wurde vermutet, dass es am Fehlen der Insekten liegen könnte. Die Gartencentren rieten dazu, die Blüten selbst zu bestäuben. Zucchinis sind einhäusige Kürbisgewächse, sie bilden an einer Pflanze männliche und weibliche Blüten. Eine Zucchini entsteht aus der weiblichen Blüte, wenn diese zuvor mit den Pollen der männlichen bestäubt wurde. Mit einem weichen Stück Papier kann man die Pollen aus der männlichen Blüte aufnehmen und diese dann vorsichtig in der weiblichen Blüte abstreifen.
Im Supermarkt liegen Unmengen an Fleisch. In den abgepackten Plastikpaketen schillern die Stücke rosafarben.
Vor den Tetrapaks Milch stehend denke ich an eine Zeichnung, die ich irgendwo einmal gesehen habe, auf der Frauen mit ihren Brüsten an Milchpumpen angeschlossen waren. Sie standen in Reih und Glied wie in einem Stall. Menschen sind die einzigen Geschöpfe, die artfremde Milch trinken. Mein Bruder ist seit einem halben Jahr laktoseintolerant. In einem Artikel den ich gelesen habe wurde behauptet, dass Rinder Klimasünder Nummer eins seien. Vor dem Eierregal frage ich mich, ob Federn absichtlich in die Bioeikartons gelegt werden.
An einem Tag im Sommer, an dem der Hitzerekord in Deutschland geknackt wurde, flogen in unserer Küche einige Fruchtfliegen auf als ich zum Obst griff. Ich brachte den Biomüll raus. Als ich den Deckel öffnete, sah ich, dass die Biotonne voller Maden war. Unzählige weiße kleine Würmer, die sich übereinander wanden. Welche von ihnen wohl die Erste war. Wie Leben entsteht. Eine Made gibt es nicht als Kuscheltier zu kaufen. Im Kinderzimmer befinden sich stattdessen Bärchen, Schäfchen, Hündchen und Äffchen.
Meine Tochter hat schon viele Tiere getötet. Ich habe sie dabei beobachtet, wie sie mit Enthusiasmus auf Käfer und Ameisen trat. Da war sie nicht mal zwei. Als ich noch ein Kind war hatte mein Opa im Garten einen kleinen Teich, in den wir viele lebendige Regenwürmer Fischen zum Fraß vorwarfen. Die Fische hatten wir Kinder uns in einem Geschäft aussuchen dürfen. Sie glitzerten im Wasser, die Würmer glitten dunkel und langsam auf den Grund. Es gab auch viele Heuschrecken hinten auf dem wilden Feld, wie wir es nannten. Wir spielten Forscher. Ich weiß nicht, wieviele Beinchen ich ausgerissen habe.
Mein Opa hatte Kaninchen. Im engen Stall taten sie mir leid. Ich ließ sie oft im Garten herum hoppeln und hatte Schwierigkeiten sie wieder einzufangen. Mein Opa ärgerte sich jedes Mal wenn er die Tiere im Salatbeet sitzen sah. Einmal habe ich zugesehen, wie er einem der Kaninchen das Fell über die Ohren zog. Wochenlang erinnerten Blutstropfen auf dem Steinweg daran.
Es wird zwischen Haustier, Wildtier, Nutztier und Schädling unterschieden. Die meisten Haustiere haben weiches Fell, gepflegte Federn, sind süß, exotisch oder Ersatzmenschen. In einem Ratgeber lese ich, dass ein Schädling mehr schadet als dass er nutzt. Nutztiere werden primär aus wirtschaftlichen Gründen gehalten und / oder getötet. Manche leben um zu arbeiten und andere leben um zu sterben.
Forschung wird mit Säugetieren, Pilzen, Bakterien und Insekten betrieben, die sich nicht dagegen wehren können. Im Tierschutzgesetz wird zwischen wirbellosen Tieren und warmblütigen Tieren unterschieden und Insekten werden prinzipiell weniger Rechte eingeräumt. Bienen stellen unter den Insekten mittlerweile eine Ausnahme dar. Menschen sind vermutlich zu dem Schluss gekommen, dass sie ihm mehr nutzen als dass sie stören.
Der Garten ist weitläufig. Es gibt eine Wiese hinter dem Haus, einen Hühnerhof auf dem verschiedenfarbige Hühner unsere Essensreste verwerten und einen kleinen künstlich angelegten See aus dem eine kleine verwilderte Insel emporragt. Darauf wächst eine Trauerweide und viel Gestrüpp. Ein Entenpaar hatte ein Nest gebaut. Bis vor kur- zem wuchs eine kleine Kanarische Dattelpalme in diesem Biotop. Als ich jedoch vor einiger Zeit in den Garten ging sah ich, dass die Palme all ihre Wedel schlaff hängen ließ. Sie ragten halb ins Wasser hinein und der kurze Stamm sah aus als hätte er eine offene Wunde. Ich fand heraus, dass das Phänomen des Palmensterbens seit Anfang der 90er Jahre im Mittelmeerraum zu beobachten ist und dass der aus Südostasien stammender Rote Palmrüssler (Rhynchophorus ferrugineus) dafür verantwortlich gemacht wird. In ausgefressenen Hohlräumen der Bäume legt der weibliche Käfer bis zu 300 Eier. Die Larven fressen sich über einen Zeitraum von etwa drei Monaten durch das Gewebe der Pflanze und bauen sich damit ihre Kokons. Durch
die Zerstörung des Wachstumskegels fallen die Palmwedel ab und die Pflanze kann keine neuen Blätter mehr ausbilden und stirbt. Die adulten Käfer befallen anschließend die nächste Palme. Sie können fliegen, sind aber nicht derart flugbegabt, als dass sie selbstständig von Asien nach Europa gekommen sein könnten. Die Larven über- leben jedoch mehrere Monate im Kern der Palme. Möglicherweise saßen sie in Europaletten oder in importierten Palmen auf dem Weg nach Südeuropa.
In Asien gelten die Larven als Delikatesse. Im Mittelmeerraum werden sie als Schädling bezeichnet.
Im Gehege der Hühner lässt sich vermutlich seit Jahren kein Wurm mehr blicken. Sie picken Körner und bekommen Essensreste vorgesetzt. Als zwei von den Hühnern starben, wurden sie durch Jungtiere ersetzt. Ich beobachtete die 6 € Hennen im Gehege und bemerkte, dass die alten Hühner immer wieder mit ihren Schnäbeln nach ihnen hackten. Diese ließen es ohne Gegenwehr mit sich geschehen, ver- suchten aber den Älteren möglichst aus dem Weg zu gehen. Ich hatte einige Male den Impuls, durch laute Zurufe die Neuankömmlinge vor den Angreifern zu schützen. Bei einer Recherche im Internet fand ich Informationen über die sogenannte Hackordnung und überließ den Tieren den Aufbau ihrer eigenen sozialen Hierarchien.
Es wird behauptet, Pflanzen stehen an unterster Stelle der Nahrungskette, Pflanzenfresser auf einer nächst höheren und Fleischfresser darüber. Vielleicht muss der Mensch vor diesem Hintergrund Tiere und Pflanzen in Masse halten und verzehren. Wir sind weder die Stärksten noch die Schnellsten. Im Vergleich mit anderen Lebewesen ist das menschliche Gehirn überdimensioniert groß, heißt es. Vielleicht spricht das für Klugheit.
In einem Buch lese ich, dass wir lange Zeit hinter dem Löwen in der Nahrungskette standen. Der Mensch musste warten bis die wilden Tiere satt gefressen waren und sich mit den Resten begnügen. Oftmals waren nur die Knochen übrig. So machte sich der Mensch als Mängelwesen mit Werkzeug an die Knochenreste und ernährte sich vom proteinhaltigen Knochenmark. Heute werden Wildtiere in Zoos eingesperrt, damit wir an einem Sonntag mit einer Picknickdecke im Bollerwagen gemütlich an ihnen vorüber gehen können.
Die Fähigkeit der Pflanzen ist bewundernswert, erzeugen sie ihre Nahrung aus unbelebter Materie selbst.
Ob Pflanzen ein Gehirn besitzen weiß die Forschung ironischerweise nicht. Die Wurzelspitzen weisen nach Erkenntnissen einiger Forscher tatsächlich auf eine gehirnähnliche Struktur hin. Die Sprache von Tieren und Pflanzen können die wenigsten Menschen richtig ver- stehen, kaum einer bemüht sich. Die meisten Menschen sprechen Pflanzen eine Kommunikationsfähigkeit ab. Dass sich einige Tierarten untereinander mit Lauten vor Gefahren warnen, ist bewiesen. Achtung, ein Mensch. Flüchten gefangen gehaltene Tiere in eine imaginierte Realität? Schaffen sie virtuellen Raum?
Wir haben in unserem Drei-Personen-Haushalt 14 Applegeräte. Meine Mutter behauptet, sie brauche kein Handy. Ich finde es praktisch, dass sie trotzdem eins besitzt. Früher konnte ich alle wichtigen Festnetznummern auswendig. Die Geburtstage und die Telefonnummern meiner Freunde wusste ich ebenfalls. Ich durfte erst abends telefonieren, weil es dann umsonst oder zumindest billiger war. Aber wenn meine Mutter gerade telefonierte, konnte ich nicht ins Internet mit unserem Windows 98. Es hat ohnehin ewig gedauert sich einzuwählen und dabei ertönte ein merkwürdiges Gepiepse.
Jetzt befinden sich in einigen Haushalten smarte Geräte. Die kleinen Schwestern namens Alexa und Siri können Gefühle simulieren. Die weiblichen Stimmen könnten von Assistentinnen, Nachrichtensprecherinnen, Krankenschwestern oder Sekretärinnen sein. Sie versichern uns, dass wir ihnen im Gegensatz zu ihrem großen Bruder vertrauen können, sie wollen uns keine Angst machen. Sie sind da, um uns zu leiten und zu helfen. Eine Stimme kann berühren ohne zu berühren. Viele Menschen streichen vermutlich öfter über einen Bildschirm als über die Haut eines Mitmenschen.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich mich als Kind oft beobachtet gefühlt habe. Ich wurde nicht religiös erzogen, aber ich habe das damals mit einer Art göttlichem Beobachter assoziiert. Heute habe ich eine Google-Mailadresse. Bei Youtube finde ich es sehr praktisch, dass ich auf eine Liste meiner zuletzt gesehenen Videos zugreifen kann. Wenn ich Google Maps öffne, kann ich mich mit einem blauen Punkt identifizieren. Der Blick von oben gibt mir das Gefühl meinen Kiez zu überblicken und den effizientesten Weg wählen zu können. Ich weiß, dass Google weiß, wo ich bin. Manchmal, wenn ich auf die Toilette gehe und mein Handy mitnehme überlege ich, ob Google auch weiß wo ich mich in meiner Wohnung befinde. Ob Google weiß, welche Webseiten oder Apps ich in welchem Raum meiner Wohnung bevorzugt besuche.
Gegenüber befindet sich eine Bäckerei. Die Inhaberin erzählte mir, dass es den Laden bereits zu DDR Zeiten gab. Sie hat keine Webseite. Wenn ich mit meinem Handy auf Google Maps meinen Standort be- trachte, dann wird mir die Bäckerei nicht angezeigt. Wenn ich gezielt nach einer Bäckerei in meiner Umgebung suche, erscheint ein Bild eines Brötchens und eine Entfernungsanzeige mit Angabe der zeitlichen Dauer für den Weg: Eine Minute mit dem Rad. Mein Rad steht an einem Fahrradständer vor der Tür der Bäckerei, aber das weiß Google anscheinend nicht. Obwohl ich mein Handy in meiner Hosentasche dabei hatte, als ich das Rad fest schloss. In den Kommentaren stehen sowohl positive Bewertungen über das leckere Essen und das freundliche Personal sowie Beschwerden über dasselbe.
Ich habe gelesen, dass Sucheinträge auf Google zur Analyse herangezogen werden, um Epidemien frühzeitig bzw. in Echtzeit zu erkennen und vorherzusagen. In den letzten drei Monaten habe ich etwa sieben mal nach den Symptomen des Coronavirus gegoogelt.
Ich habe Leute dabei beobachtet wie sie Unmengen an Mehlpaketen in ihre Einkaufswägen luden. Eine Frau hatte einen Säugling in einem Tuch umgebunden. Sie ging unerwartet behändig in die Knie, lud geduldig zwei Pakete zwei Pakete zwei Pakete in ihren Einkaufswagen. Jemand sagte mir, dass Youtube Videos blockiere, in denen das Wort Coronavirus erwähnt wird.
Viren benötigen wie Parasiten einen Wirt zur Vermehrung, denn sie haben keinen eigenen Stoffwechsel. Aus diesem Grund wird ihnen der Status eines Lebewesens abgesprochen. Was ist Leben, was ist ein Wesen? Status eines Lebewesens. Was ist ein Virus, das wie ein Dämon Körper in Besitz nimmt und umprogrammiert?
Jetzt, wo wir alle in die virtuelle Welt flüchten um an unseren sozialen Netzwerken festzuhalten oder diese neu aufzubauen: Welche Krise würde ein flächendeckender digitaler Virus hervorrufen?
Im physischen Sinne ohnehin unbetretbar, fühle ich meinen Körper ungewohnt bewusst bei dem Gedanken, dass mir der Weg ins Netz versperrt sein könnte.
Als ich im Sommer im Meer baden war habe ich mich für einen kurzen Augenblick von der Natur beherrscht gefühlt.
Wenn es dunkel ist mach ich eine Lampe an. Wenn mir im Winter nach Erdbeeren ist, kann ich welche kaufen. Wenn ich aus dem Fenster schaue sehe ich Beton und Blech. Ein Stück Himmel, ein paar Wolken. Ein kahler Baum, zwischen hohen Häusern. Wie schafft er es dort zu überleben? Ein seltenes Flugzeug in Coronazeiten hinterlässt einen Kondenzstreifen.